Die Bildbetrachtung
Bei der Bildbetrachtung habe ich von Malenden schon Sätze gehört wie: Du willst mich ja nur aufmuntern, willst ja nur nett zu mir sein, weil mein Bild eigentlich so schlecht ist. Weil ich nicht malen kann. Du bist nicht ehrlich zu mir. Aber ist deine Stimme, die dir sagt, dass du nicht malen kannst, ehrlich zu dir? Wo kommt sie her, diese Stimme, die nie zufrieden mit dir ist? Und warum hat sie die Macht, dass du ihr so bedingungslos glaubst? Mit welchen Augen siehst du dein Bild?
Die innere Haltung bestimmt, wie wir die Dinge sehen.
Wenn ich ein Bild betrachte, dann stülpe ich ihm kein Wertesystem über, ich vergleiche keinen Farbklang mit Paul Klee, keinen Bildaufbau mit Franz Marc. Ich denke nicht das, was ich sehe, ich empfinde was sich mir zeigt. Damit steigt dann vielleicht die nächste Angst beim Malenden hoch. Ich könnte etwas von seinem/ihrem Innersten sehen, könnte Schlüsse ziehen über Ihn/sie.
Aber dann würde ich ja schon wieder im Denken sein. Ich bin aber nicht im Zustand eines bewertenden Denkens, welches hypothetische Konzeptionen kreiert, was sich denn dahinter verbergen könnte. Würde ich dies tun, dann würde ich es mit meinen eigenen Vorstellungen vermischen, dann laufe ich Gefahr, es mit meinen Verstandes-Augen zusehen, welche auch noch ihre versteckten Vor-Stellungen haben, die mit der Situation, mit jenem Bild, überhaupt nichts zu tun haben.
Ich denke nicht bei der Bildbetrachtung ich nehme wahr. Es ist ein intuitives, ein seelisches Betrachten. Welche Kräfte wirken da? Wie klingt der Dialog der einzelnen Bildfragmente miteinander? Was schwingt im Zwischenraum? Was braucht es noch um in sich stimmig zu sein, gibt es Orte im Bild, die noch auf etwas warten? Dominiert etwas zu sehr? Es ist ein phänomenologisches Betrachten, wir lernen so, durch die Erscheinungsform, durch das Offensichtliche den geistig-seelischen Impuls wahrzunehmen, die Kraft, die es erschaffen hat.
Jede schöpferische Kraft ist grundsätzlich gut. Ein authentisches Bild berührt uns, weil unsere Seele die Wahrheit liebt. Die Schönheit der Wahrhaftigkeit hat eine universelle, zeitlose Ästhetik. Perfektion ist ein vom Verstand konzipiertes Schönheitsideal. Moderne Schönheit unterliegt der irdischen Zeit-Vor-Stellung und ist zu substanzlos um zu überleben, sie ist austauschbar.
Der Wert eines Bildes ist immer die einzigartige, individuelle Ästhetik eines authentischen Ausdrucks.
Alle anderen Bewertungen sind konzipierte Vor-Stellungen, meist von nur wenigen gemacht, die einen Markt bestimmen. In all unseren Lebensbereichen unterliegen wir solchen aufgestellten Lebens- und Veraltens-Konzepten, die uns bestimmen wollen, damit wir in ihr System passen.
Nicht ist also notwendiger, als gewahr zu werden, mit welchen Augen wir die Dinge, die Welt und uns selbst sehen. So lange wir nicht aus unserem autarkem Selbst – Bewusstsein heraus auf die Dinge sehen, werden wir ihr wahres Wesen nicht erkennen können. In der Bildbetrachtung können wir üben zu einer solch inneren Haltung zu finden, die uns das Wahrhaftige offenbart in ihrer zeitlosen Ästhetik. Ein oberflächig schön gemaltes Bild wird mich nicht sehr beeindrucken, aber wenn du mir ein Bild zeigst, welches überhaupt nicht deinen Vorstellungen entspricht und ich sehe eine authentische Kraft darin, dann werde ich immer sagen: Das ist ein gutes Bild. Und du wirst mich weiterhin eine Lügnerin nennen, bis du deine innere Haltung veränderst und durch diese sehen lernst; die zauberhafte Einzigartigkeit deiner Seelensprache.